Alfred H. M. Nehring

 

 

 

 

Die dralle Olga

 

  Störrisch stellte sie sich wieder einmal an, gehörig störrisch. Das wußte Berni sofort, und er freute sich über sie. Alle anderen Kühe hatten die Soldaten mit den eckigen Mützen schon aus dem Stall getrieben. Nur die Dralle Olga noch nicht. 
  Der Offizier stieg von seinem Pferd und marschierte in den Stall. Berni hörte ein Kommando. Soldaten schimpften, und Stockhiebe klatschten. Der Offizier erschien in der Stalltür, schrie nach draußen in das Gebrumm, Geklecker und Geschiffe der Kühe einen Befehl. Sofort stürmten alle Soldaten vom Hof in den Stall. Kommandos. Kettenschläge. Eine peitschende MG-Garbe, die Butzenscheibe über dem Stand von Olga zersplitterte. Eine zweite Garbe und noch eine dritte. Dann war es still. 
  Berni riß sich von Tante Klara los und rannte über den Hof. Als er durch die Stalltür stolperte, wandten sich die eckigen Mützen wie auf Kommando ihm zu. 
   „Nein“, flüsterte er im Aufrichten und zeigte auf Olga, die ruhig an ihrem Platz lag. Sie wandte sich zu Berni um und blinkte mit den Augenlidern. Sie hatte große, fast kreisrunde Augen, in denen das Weiße besonders hell leuchtete. Keine der anderen Kühe hatte solche Augen. 
  Eine der Zackenmützen holte mit einer Kuhkette aus. Aber der Offizier fiel ihm mit einer mannshohen Stange in den Arm. Mit seiner Reitpeitsche in der anderen Hand wies er Berni ruhig nach draußen. 
  Berni streifte Olga leicht mit den Fingerkuppen und ging. Sie erhob sich und trottete hinterher. 

  Mit Schieben, Stoßen und Stockhieben gelang es den gezackten Uniformen, die Kühe vom Hof zu treiben, dem reitenden Offizier hinterher. Ein Staubschleier umwirbelte die trampelnde Herde. Bernie zog die Augenlider zu Schlitzen zusammen. Die Dralle Olga wandte immer wieder den Kopf. Durch den flirrenden Sandstaub hindurch konnte Berni noch deutlich ihre großen Augen erkennen, ehe die Treiber hinter ihr die Sicht versperrten. 

  Der Mulm legte sich im Hof. 
  Ab und zu hörte Berni noch ein schwaches Brüllen von dem Hügel her, hinter dem die Herde verschwunden war. Berni schluckte. Es wurde nur ein verkrampftes Würgen. Sein Mund war stocktrocken. 

  Berni sah zum Haus hinüber. Hinter den Fensterscheiben erblickte er seine jüngeren Geschwister, Vettern und Cousinen. Ihre Gesichter kamen ihm vor wie die Steinköpfe auf dem Friedhof . 
  Er machte einen Schritt in Richtung Hoftor. Aber Tante Klara hielt ihn fest, sie zog ihn mit ins Haus. 

  „Kriegen wir jetzt keine Milchsuppe mehr?“ fragte Kläuschen. 
  „Seid froh, daß wir noch am Leben sind“, sagte Tante Klara.

  „Und keiner geht mehr raus! Die schießen auf alles, was sich bewegt. Auch auf Kinder.“

  Tante Klara schob den Tisch beiseite und rollte den Teppich zusammen. Dann hob sie die Kellerluke und stieg hinab. Sie zählte die Vorräte. 

  Berni schlich sich ins Altenzimmer und zur Hintertür hinaus. 
  Er lief den Sandweg entlang, auf dem die Zackenmützen die Herde fortgetrieben hatten. Hinter dem Hügel gabelte sich der Weg. 
  Die Trampelspuren und die Kuhfladen wiesen Berni die Richtung der Herde. 

  Im Sand lag ein mannshoher Stecken. Berni hob ihn auf. Er konnte ihn mit seiner Hand gerade so umfassen. 

  Der Weg mit den Trampelspuren führte um die bewaldeten Flanken des Voßbergs herum. Berni nahm den Pfad über die Anhöhe. Auf der kahlen Kuppe verließ er den Kammweg. Er stieg auf den höchsten Erdbuckel, stützte sich mit beiden Händen am Stecken ab und reckte sich empor. Unterhalb des Voßbergs und des Waldstreifens sah er die Herde auf einer Wiese. Sie hatte sich am Ufer des Bachs verteilt, graste und soff. 
  Olga hob den Kopf, schien zu wittern. Dann reckte sie das Maul empor und muhte in den blauen Frühlingshimmel. Das Echo ihres Rufs pendelte im Tal hin und her, verhallte. Olga begann wieder zu grasen. 
  Die Uniformen mit den Zackenmützen saßen auf der Böschung des Dammes, der das Bachtal vom Fuße des Voßbergs her durchquerte. Auf der Bachbrücke hoch zu Pferde der Offizier. Er hielt ein Fernglas vor die Augen, richtete es auf die kahle Bergkuppe. Berni ließ sich flach zu Boden fallen. Der Stecken blieb stehen. 

  Das letzte Stück des Pfades führte durch Buchen- und Eichenwald. Vom Bach her hallten Schreien und Schimpfen herein, Brüllen von Kühen und immer wieder klatschende Stockhiebe. 
  Berni hielt sich hinter dem Gebüschsaum versteckt, spähte vorsichtig durch das frische Laub. Die Herde war schon jenseits des Baches, nur eine Kuh nicht. Sie lag oben auf der Böschung kurz vor der Brücke. Die Zackenmützen standen um sie herum und schlugen auf sie ein, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Sie wollte einfach nicht über diese Brücke. Das konnte nur Olga sein. Nie war sie mit den anderen Kühen auf die Nachbarwiesen hinübergegrast, wenn Berni beim Hüten einmal nicht aufgepaßt hatte. 
  Der Offizier gab schließlich Befehl zum Abmarsch, wies auf die Herde hinter der Brücke. Eine der Zackenmützen richtete die MP auf Olga, sah den Offizier fragend an. Der blickte zum Waldrand herüber, winkte ab. Sie ließen Olga liegen und verschwanden mit der Herde im jenseitigen Wald. 

  Zaghaft verließ Berni den Gebüschsaum und lauschte, bevor er im Freien weiterging. Olga wandte ihren Kopf in seine Richtung. Trotz der Entfernung konnte er ihre weiten Augen in dem schwarzen Gesicht deutlich erkennen. Und nun rannte er zu ihr hinüber. 
  Sie hatte mehrere Platzwunden und Schwellungen auf dem Rücken. Berni warf den Stecken in den Bach. Dann sagte er: „Komm Olga, wir gehen jetzt nach Hause.“
  Die Dralle Olga erhob sich und trottete voraus.

 

(2004)

 

 

 

  

Alfred H. M. Nehring


geboren 1937 in Drawehn (Hinterpommern).
40 Jahre Schuldienst im Ammerland und in Oldenburg (Oldb).
Langjährige kommunalpolitische Tätigkeit (Ratsherr, ehrenamtlicher Bürgermeister).


Während des Studiums(1958-61) erste Satiren, seit den 60er Jahren Kurzgeschichten und Erzählungen.

 


Die Themen seiner Texte entstammen der persönlichen Erfahrung und der Begegnung mit anderen Menschen im dörflichen Bereich, der städtischen Umgebung und der Politik. Außerdem befasst er sich mit Erlebnissen aus der Kindheit, die auf dem Lande idyllisch begann und 1945 einen abrupten Bruch erfuhr.


Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Gruppen- und Einzellesungen in Oldenburg und der Region. Gründungsmitglied der Autorengruppe Wortstatt (1983).

Alfred H. M. Nehring 
Eibenweg 17 
26131 Oldenburg
Tel/Fax: 0441/508654